„Arbeit ist das halbe Leben“, lautet natürlich das alte Sprichwort. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ ein anderes. Ist der Stellenwert der Arbeit, den diese Weisheiten vermitteln, 2018 noch zeitgemäß? Dieses Thema beschäftigt mich seit Jahren. Letztes Jahr habe ich dazu auf der Social Media Week gesprochen, heute schreibe ich einen Beitrag für die Blogparade #Zukunftsblick: Die Welt von morgen der Otto Group, denn das Thema A R B E I T ist in meinen Augen absolut zukunftsrelevant.

New Work wird zum Leitbegriff

Der Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft erfordert Innovationen in der Arbeitswelt. New Work wird in Zeiten von Work-Life-Balance und Arbeitswelt 4.0 zum zentralen Leitwort. Dabei müssen klassische Konzepte von Arbeit, die Zeit, Raum und Organisation betreffen, neu gedacht werden.

Die meisten Angestellten in Deutschland arbeiten mehr als 40 Stunden pro Woche – ein Relikt aus einer Zeit, in der es keine Smartphones, Tablets oder Computer gab. Neue Technologien sollen uns die Arbeit erleichtern, Kommunikation beschleunigen. Aber warum sitzen wir dann jeden Tag 8 Stunden im Büro? Sollten wir nicht WENIGER Zeit für die Arbeit aufwenden müssen? Ratgeber wie Die 4-Stunden-Woche oder Wer hat an der Uhr gedreht? führen Bestsellerlisten an – amazon liefert mehr als 4.000 Einträge zum Suchbegriff “Work-Life-Balance”, Romane wie The Circle widmen sich dem Thema Zukunft der Arbeit. Das Thema ist gefragt, aber wer kann schon am Morgen sagen:

“Sorry, heute komme ich nicht. Ich habe heute keine Zeit für die Arbeit”?

Neue Arbeitsräume und Unternehmensstrukturen

Die industrielle Revolution hat in unserem Kulturkreis das klassische Bild von Arbeit geprägt. Hochgradige Arbeitsteilung, klare Hierarchien sowie feste Kommando- und Zeitstrukturen haben zur Standardisierung von Arbeitsprozessen geführt. Henry Ford startete seine Initiative mit der 40-Stundenwoche im Jahr 1914 für Fabrikarbeiter. Seitdem sind viele von uns in Büros umgezogen, arbeiten auf Computern und sind mit der ganzen Welt 24/7 durch das Internet verbunden, über Geräte, die wir mit uns in unseren Taschen tragen. Und doch besetzen wir 40-Stunden-Arbeitswochen, fünf Tage in der Woche – genauso wie Herr Ford für seine Fließbandarbeiter vor einem Jahrhundert vorgeschlagen hat.

Da stellt sich mir die Frage: Wird das immer so weiter gehen? Nein, der Wandel hat schon eingesetzt. Unsere Gesellschaft entwickelt sich von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft. Dem damit einhergehenden Wertewandel muss sich auch das klassische Konzept von Arbeit anpassen. Globalisierung und Digitalisierung eröffnen neue Chancen der zeitlichen, räumlichen und organisatorischen Flexibilität, weshalb sich Arbeitsräume und Unternehmensstrukturen in Zukunft verändern werden

Präsenzkultur als Leistungskiller

Bei der Beschäftigung mit dem Thema NEUE ARBEITSWELT, stoße ich auf immer die gleichen Bereiche, die dem Begriff Inhalt geben und das sind:

  • Präsenzkultur
  • Freie Zeiteinteilung
  • Weniger Arbeit

Die Digitalisierung  macht die Entwicklung neuer Technologien unerlässlich, um zeitlich und räumlich differente Arbeiter zusammenzubringen. Experten behaupten, wir können an zwei Flow-Stunden am Tag viel mehr schaffen als an zwölf Stunden, in denen wir Präsenz demonstrieren, aber in Wahrheit im Internet surfen oder drei Stunden an einem Satz basteln. Für Menschen, die auf Stundenbasis bezahlt werden, lohnt sich das Stunden schinden vielleicht. In jedem Fall ist die Präsenzkultur ein Leistungskiller. Freie Zeiteinteilung finde ich am schwierigsten, denn es  erfordert ein hohes Maß an Eigenmotivation, der Arbeit den erforderlichen zeitlichen Rahmen zu geben. Groß ist die Gefahr, sich in einem großen Gemisch von Arbeit und Freizeit zu verlieren. Hier gilt es neue Skills der persönlichen Organisation zu erlernen.

Es gibt die einen, die sagen, sie brauchen eine klare Abgrenzung von WORK und LIFE, dann gibt es die, die immer die BALANCE zwischen beiden suchen und dann die, die sagen, ich trenne beide Bereiche nicht, denn meine Arbeit macht mir so viel Spaß, dass WORK und LIFE eins geworden sind. Choose a job you love and you will never have to work a day in your life – auch wieder leichter gesagt, als getan.

Ich persönlich finde eine zu strenge Trennung zwischen Job und Freizeit schwierig und regelrecht altmodisch. Bei mir geht es eher ineinander über, das geht sicherlich vielen Kreativen so. Ich höre ja nicht plötzlich auf zu denken. Also kann ich auch nicht verhindern, dass mir eine Idee unter der Dusche einfällt.

Weniger Arbeit, mehr produktive Zeit?

Maschinen als Kollegen: In vielen Arbeitsbereichen erbringt nicht mehr der Mensch die produktive Arbeitsleitung, sondern komplexe Computer. Wenn Maschinen einen größeren Teil der Arbeit übernehmen, wir also weniger zu tun haben, müssen wir ja nicht die restlichen 4 Stunden auf dem Bürostuhl absitzen. Gehen wir raus und machen das, was UNS ausmacht, wofür wir brennen, wofür wir sonst im Alltag keine Zeit haben. Oder auch einfach mal: nichts.

Die Start-Up Kultur wird sich ausbreiten – auch in nicht digitalen Bereichen, z.b. Möbel herstellen, Fahrzeuge, Kinderspielzeug. Das zeigt der Erfolg der Sendung „Die Höhle des Löwen“, die Zuschauer wollen sehen, wie „Macher“ ihre Ideen umsetzen. Sicherlich ist auch das Scheitern das voyeuristische, aber auch zu sehen, wie andere erfolgreich sind mit einer – zunächst – meist kleinen Idee. Zu denken: „das will ich auch machen“. Wer die Arbeitszeit runterfährt, kann nebenbei Gewürze herstellen und online verkaufen, Schmuck designen, oder VW Busse vermieten. Oder aber auch die Alten pflegen, von denen es immer mehr geben wird, Stichwort demographischer Wandel.

Wie ist das denn jetzt eigentlich mit der Zeit?

Die Arbeit rückt immer mehr in den Fokus des menschlichen Bewusstseins. Von einer existenziellen Notwendigkeit wurde sie zur Sinnstiftung Nummer eins.

Den Menschen muss mehr Zeit zur Verfügung gestellt werden, ihre Sinn gebenden Beschäftigungen herauszufinden und auszuüben. Ein erster Schritt könnte dafür die Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit sein. Allein die Arbeitszeit an sich, verbunden mit weiteren Stunden für Hin- und Rückweg rauben schon den Großteil der Tages-Zeit. Addiert man die weiteren täglichen oder wöchentlichen Notwendigkeiten wie Arztbesuche, Besorgungen oder Kinderbetreuung hinzu und denkt an die erforderliche Regenerationszeit, sind 24 Stunden schnell gefüllt – gefühlt haben wir dann den 36-Stunden-Tag. Wie beim Wetter: Die gemessene Temperatur und die gefühlte Temperatur.

Es ist also kein Wunder, dass sich Menschen ihre Arbeit als Identitätsbezug erwählen. Denn für andere Tätigkeiten haben sie keine Zeit mehr.

Karl Marx träumte von einer Gesellschaftsordnung, die es jedem möglich mache,

heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden

Weil wir so viel Zeit mit Arbeiten und immer gleichen Tagesabläufen verbringen, haben wir das Gefühl, keine ZEIT zu haben, sie fehlt.

In einem ZEIT Artikel habe ich eine schlüssige Erklärung dafür gelesen, warum uns im zunehmenden Alter die Zeit immer schneller vorkommt. Weil wir immer weniger Dinge zum ersten Mal erleben und sich dadurch eine eintönige Routine in unserem Alltag einschleicht. Haben wir durch das viele Arbeiten keine Zeit für neue Erlebnisse?

Ideen für eine optimierte Work-Life-ZEIT

Unbenannt

Zwei treibende Faktoren, die den Wandel in der Arbeitswelt befeuern sind:

  1. die technologische Transformation
  2. das Bedürfnis der Menschen nach mehr Selbstbestimmung und zur Rückkehr nach einer gewissen „Ruhe“ im digitalen, schnelllebigem Alltag.

Der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung paart sich häufig mit dem Bedürfnis nach einer Anleitung, wie man mit dieser Freiheit zurecht kommt. Das erlkärt das momentan hohe Aufkommen an Ratgebern, Dossiers und Themenwochen. Die Menschen wollen informiert, wollen AUFGEKLÄRT werden.

Hier nun ein paar Denkanstöße für eine mögliche andere Verteilung der Tages-, Wochen- und Lebenszeit:Unbenannt 1

  1. Arbeit ist keine gute Idee mehr

Arbeit ist für Arbeitsexperte James Livingston ein Konzept von gestern. Arbeit und Wohlstand haben sich entkoppelt. Er bezieht sich auf die USA und stellt fest, dass die Menschen, die 8 Stunden und mehr im Büro sitzen TROTZDEM Essensmarken beantragen müssen. Es ist für viele nicht mehr möglich, mit einer bestimmten Anzahl von Stunden ein vernünftiges Einkommen zu erzielen. Er fordert das bedingungslose Grundeinkommen. Es widerstrebt ihm der Gedanke, dass den Menschen gesagt wird, was sie mit ihrer freien Zeit machen sollen – nämlich arbeiten. Viele können mit der Idee, nicht zu arbeiten, gar nichts anfangen, denn sie wissen nicht, was sie mit ihrer Freizeit anfangen sollen. Aber: Erst wenn wir nicht mehr arbeiten MÜSSEN, können wir uns damit auseinander setzen, was wir wollen, sagt Livingston. Experimente mit dem bedingungslosen Grundeinkommen zeigen, dass die Menschen nicht weniger gearbeitet haben. Möglicherweise werden in 30 Jahren 20 Prozent der derzeitigen Berufe durch Maschinen und Roboter ersetzt, d.h. laut Livingston ist dann gar nicht mehr so viel (entlohnte) Arbeit zu tun. Es wird einen Wandel hin zu „notwendiger“ Arbeit geben, wie z.B. Bildung und Pflege.

Das Grundeinkommen würde in diesem Fall eine Sicherheit bieten und Zeit verschaffen, damit sich diejenigen Menschen neu orientieren können, deren Berufe es nicht mehr geben wird. Die Frage nach der Finanzierung: Ebenso wie es Steuern auf menschliche Arbeit gibt, muss es in Zukunft Steuern auf Arbeiten geben, die von Robotern, Computern oder Software erledigt wird.

  1. Einmal im Monat etwas Neues wagen

Fangen wir doch direkt damit an und nehmen uns vor, mindestens einmal im Monat etwas zu tun, das wir noch nie getan haben: Nähen lernen, Malen, Buch schreiben, Fotografieren ohne Automatikmodus, Gitarre lernen, Marathon laufen, Ehrenamt,..

  1. Job hinterfragen, was erfüllt mich?

Entscheidende Voraussetzung, um die Fäden in der Hand zu behalten: Wisse, was du willst. Der erste Schritt besteht darin, sich klarzumachen, was einem wichtig ist. Geschichten vom Unternehmensberater, der als Winzer sein Glück fand, der Anwalt, der in die Entwicklungshilfe ging, die Managerin, die ihr eigenes Café eröffnet – solche Geschichten liest man viel. Aber kennen wir wirklich solche Leute persönlich? Die meisten Personen, die ich kenne, haben erstmal im Kleinen angefangen, Dinge zu hinterfragen und nach und nach umzusetzen. Viele sind frustriert, aber nicht bereit, etwas zu ändern.

  1. WORK als Schulfach

Ich sage: Das Thema Arbeitswelt muss schon in den Schulen zum Thema gemacht werden. 14 Tage Berufspraktikum in der Anwaltskanzlei von Papas Kumpel reichen da wenig aus, um „echte“ Arbeitsluft zu schnuppern. Es sollte ein komplettes Fach zum Thema Arbeitsleben geben und mehr Chancen schon während der Schule, VOR Studium und Beruf, einen Eindruck zu gewinnen. Bei vielen unzufriedenen Arbeitnehmern liegt diese Unzufriedenheit in der falschen Wahl von Studienfach oder Ausbildung begründet. Die Jugendlichen müssen früher mit der Frage konfrontiert werden: Was will ich? Was macht mich aus? Womit möchte ich mich die nächsten 20, 30, 40 Jahre meines Lebens beschäftigen?

  1. Fernseher weg

Wir haben seit 9 Jahren keinen und verbringen die Abende mit Sport, Gesprächen, Kochen, Essen, unseren drei Kindern – ok, auch: Smartphone, Rechner, Arbeiten. Aber: es ist nie der gleichbleibende Trott. In vielen Familien läuft spätestens ab 20h der Fernseher. „Ich brauche die Berieselung zum runterkommen“ ist oft das Argument. Aber an dieser Stelle ist es schon zu spät. Vorher muss angesetzt werden, damit der Zustand des „von irgendwas runterkommen müssen“ gar nicht erst einsetzt. Eine Möglichkeit ist die:

  1. 4-Tage-Woche

Muss ich nicht viel zu sagen. Ein Tag weniger Arbeit, eine Tag mehr ZEIT. Dieser eine Tag führt womöglich schon zu mehr:

  1. Gelassenheit:

Entspannter durch den Arbeitsalltag

  • 15 Minuten früher aufstehen, Kaffee geniessen, nicht im Stehen runterkippen /NICHT als erstes ins Smartphone glotzen
  • Alternativ: 30-45 min. Joggen oder Wohnzimmer Workout
  • Nicht ablenken lassen von Unwichtigkeiten – Tagesplan machen
  • Wenn zunehmend das Bewusstsein für „Aus“-zeiten geschärft wird, hat man auch nicht mehr ein schlechtes Gewissen, wenn man mal nicht erreichbar ist. Ein Umdenken muss stattfinden. Digitalisierung: Ja, findet statt, alles ist Veränderung. Aber wir müssen lernen, die Tools, die uns zur Verfügung stehen, sinnvoll und wohldosiert einzusetzen.
  • Pausen! Experten raten nach 1,5 Stunden 10 Minuten Pause, frische Luft, aufstehen, Mittags längere Ruhezeit – Mails, Anrufe, Instagram, alles aus in der Zeit
  • Am Ende des Arbeitstages To Do Liste für morgen schreiben. Den Feierabend mit etwas nettem beenden. Sich noch einmal in Erinnerung rufen, was schön war an diesem Tag. Mache ich als Ritual jeden Abend mit meinen Kindern

 

Und dann  braucht man ja auch noch Zeit, einfach nur dazusitzen und vor sich hin zu schauen

ASTRID LINDGREN

Photo by LEMUR on Unsplash

 

3 Antworten auf „Arbeit isst das halbe Leben – eine Abrechnung mit der (Arbeits)Zeit

  1. Hallo,

    danke für den anregenden Artikel. Allerdings würde ich nicht von einer Reformierung oder Transformation der Arbeitswelt reden, sondern würde, den Menschen ins Zentrum rückend, von einem Paradigmenwechsel ausgehen: von einem Wandel der Arbeits- in eine Mußegesellschaft. Vorrang vor dem System hat der Mensch; und seine Persönlichkeit enwickelt er nicht im Zwangskorsett der Erwerbsarbeit (wozu auch die Freizeit gehört), sondern in der freien Zeit. Deshalb sollten neue Lebensmodelle (nicht Arbeits- bzw. Überlebensmodelle) die Erwerbsarbeit auf den zweiten Platz verweisen, woraus folgt, dass es eher eine 3-Tage Woche geben sollte oder eine tägliche Arbeitszeit von nicht mehr als zwei Stunden oder ein halbjährlicher Wechsel von Arbeit und arbeitsfreier Zeit.

    Mit mußevollen Grüßen

    Phileos

  2. Hallo,
    WORK als Schulfach finde ich mal einen interessanten Vorschlag. Bin selbst Start-Up Unternehmer und Teilzeitlehrer. In manchen Fächern sind da schon Themen wie Arbeitsverträge oder Betriebsrat dabei. Mehr Zeit bei diesen Themen wäre aber immer hilfreich. Dass alle Schüler davon profitieren würden kann ich nur unterstreichen.

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